Die Wende aus meinen Augen Témoignage d’Anja Schubert, assistante dans l’académie de Versailles en 2004-2005

Wenn ich heute, fast 16 Jahre nach der Wende, die Bilder vom Fall der Berliner Mauer sehe, kommen mir immer noch die Tränen. Es ist schön, die glücklichen Menschen zu sehen, die sich nach all den Jahren der Trennung wieder in den Armen liegen durften. Es ist schön zu wissen, wieviel Gutes dieser Tag uns allen gebracht hat. Aber ich weiss auch, dass es für viele nicht einfach war, sich in dem neuen wiedervereinigten Deutschland zurechtzufinden. Es war ja nicht nur so, dass man etwas gewann, man verlor auch vieles. Den Zusammenbruch eines Staates mitzuerleben, ist eine zutiefst verunsichernde Erfahrung. Ich weiss nicht, ob ich jemals Vertrauen in die Zukunft haben werde. Irgendwie denke ich immer : wer garantiert dir, dass morgen noch alles so sein wird wie heute ? Vielleicht liegt es ja auch daran, dass ich Geschichte studiert habe, aber ich glaube eben nicht, dass es so etwas wie Sicherheit gibt. Ich bin ziemlich misstrauisch geworden. Aber das ist eigentlich eine langwierige Entwicklung gewesen. Im Herbst 1989 war ich noch zu jung, um die Tragweite des Geschehens begreifen zu können.

Am 9. November 1989 kam mein Vater erst spät nach Hause. Er war sehr aufgeregt und riss die Wohnzimmertür auf : « Sie haben die Grenze aufgemacht ! » Alle Augen waren auf ihn gerichtet. « Ich habe es gerade auf der Bürgerversammlung erfahren. Mielke (ein Minister) hat gesagt, dass die Grenzen für den Reiseverkehr geöffnet wurden ! » Wir schalteten das Radio an. Damals schaltete man das Radio an, wenn man verlässliche Informationen wollte. Wir hörten RIAS, einen amerikanischer Sender in Berlin, ein « Westsender ». Wir wohnten im « Tal der Ahnungslosen ». So nannte man die Region um Dresden, weil man dort kein Westfernsehen empfangen konnte. Das Staatsfernsehen der DDR war hoffnungslos opportun und parteitreu. Alle Informationen wurden gefiltert oder gefälscht - Propaganda nennt man das wohl. Ich glaube, das Fernsehen hatte 1986 nicht einmal vom Reaktorunglück in Tschernobyl berichtet. Wir aßen sorglos weiter selbst gesammelte Pilze, während man im Westen vor lauter Panik nicht einmal mehr frische Milch trank. Auch von den gewaltigen Demonstrationen in Leipzig und Berlin hätten wir nichts gewusst, wenn die Informationen nicht via RIAS und « Buschfunk » (Gerüchte) bis in unser kleines Dorf an der Grenze zur Tschechoslowakei und Polen gedrungen wären.

Ich war damals 12 Jahre alt und hatte keine Ahnung von dem, was im Land vor sich ging. Meine Eltern sprachen nie mit uns Kindern über Politik, eigentlich sprach nie jemand laut über Politik : es könnte ja ein Stasi-Spitzel zuhören. Und Kinder verplappern sich schnell. Also lebte ich in einer Welt, wie ich sie mir eben vorstellte. Westdeutschland, « der Westen », das war ein unerreichbares Fabelland. Dort gab es alles, was es bei uns eben nicht gab im Überfluss und die Menschen waren reich und anders. Zumindest erzählte Oma das. Rentner durften als einzige in den Westen fahren, um Familienmitglieder zu besuchen. Allerdings nur auf Antrag. Allerdings nur zu besonderen Anlässen, Beerdigungen und Hochzeiten zum Beispiel. Wer Glück hatte, der hatte einen Opa oder einen Onkel im Westen, die regelmäßig prall gefüllte Pakete schickten oder gar mit vollen Taschen zu Besuch kamen. Wir hatten nur die Stiefcousins von Oma. Ein Paket im Jahr - die gebrauchten Klamotten, Tütensuppen, billiges Shampoo. Ich beneidete meine Schulfreundin Steffi. Sie hatte eine Westoma und sie hatte eine Barbiepuppe ! Steffi war unglaublich eingebildet. Trotzdem spielten alle gern bei ihr - sie hatte schliesslich eine Barbiepuppe !

Einige Tage nach dem 9. November redeten die Lehrer mit uns über das, was geschehen war. Naiv fragte ich mich, warum so viel Wind darum gemacht wurde, dass eine Mauer gefallen war. Ich hatte einfach keine Ahnung, was das eigentlich war. Ich dachte, es sei eben eine kleine Mauer in Berlin, so wie die schiefe Steinmauer, die unser Grundstück von dem unseres Nachbarn trennte. Kurz : ich war ziemlich dumm. Aber woher sollte ich es auch wissen ? Der Mauerbau war ein Tabuthema, ebenso wie die Wahlfälschungen, bei denen die SED immer unmögliche 99,9% der Stimmen gewann : jeder wusste es, keiner sprach darüber. Erst als die Dinge anfingen, sich im Eilzugtempo zu verändern, begriff ich langsam, was tatsächlich passierte. Das erste, was abgeschafft wurde, war der Staatsbürgerkundeunterricht - institutionalisierte Propaganda. Dann « fiel » der Unterricht am Samstag, für mich damals die wohl positivste Entwicklung. Und im Dezember fuhren wir zum ersten mal selbst in « den Westen », nach Westberlin, um genau zu sein. Alle DDR-Bürger konnten sich dort 100 D-Mark abholen, das « Begrüßungsgeld ». Ich fand es ja ein bisschen demütigend, aber für meine Eltern war das unglaublich viel Geld. Mein Vater verdiente damals 600 Ost-Mark, umgerechnet 50 D-Mark ! Natürlich war das mit dem Umrechnen so eine Sache. Da in der DDR die Preise von der Regierung festgelegt wurden - es herrschte Planwirtschaft - waren die Dinge des alltäglichen Bedarfs sehr billig : Lebensmittel, Mieten, Bücher usw.. Luxusartikel wie Autos oder Fernseher waren dagegen extrem teuer. Ein Trabant kostete zum Beispiel ungefähr 15.000 Ostmark. Dafür sparte man praktisch sein Leben lang. Es war also nicht so, dass wir hungerten und in zerrissenen Kleidern durch die Straßen irrten, wie manche Leute im Westen sich das wohl vorstellten. Aber der Lebensstandard war eben deutlich niedriger als im Westen. Und die meisten Leute hatten kaum Geld sparen können. Als im Juni 1990 die Währungsunion kam und das Geld zu Sonderkonditionen umgetauscht wurde, war das nicht mehr als ein kleines Trostpflaster. Meine Oma kam so zu 5.000 D-Mark, nicht gerade viel für ein ganzes Leben voller Arbeit und Sparsamkeit. Reiche Erben gibt es bis heute fast nur im Westen. Und das war nur einer der Unterschiede.

Für mich selbst war der Mauerfall natürlich ein Glücksfall. Ich konnte aufs Gymnasium gehen, konnte studieren was ich wollte, reisen wohin ich wollte, ich war frei. All das wäre vorher nicht möglich gewesen. Für meine Eltern war die Umstellung viel schwieriger. Zuerst war da die Sorge um das Haus : durch den Einigungsvertrag wurden die Enteignungen der 40er Jahre wieder rückgängig gemacht. Überall tauchten plötzlich ehemalige Hausbesitzer auf und forderten ihren einstigen Besitz zurück. Glücklicherweise gehörte das Grundstück meiner Eltern früher einem Nachbarn, der inzwischen lange tot war. Dann kam die Sorge um die Existenz. Innerhalb eines Jahres verloren mein Vater, meine Mutter und mein Bruder ihre Arbeit. Mein Vater wurde unerträglich missmutig und meine Mutter hat bis heute keine neue Arbeit gefunden. Die Arbeitslosigkeit ist im Osten nach wie vor höher als im Westen, etwa 20%. Viele der DDR-Betriebe waren « nicht konkurrenzfähig » und wurden geschlossen oder zu Spottpreisen verkauft. Manchmal kamen auch « Manager » aus dem Westen und machten alles noch schlimmer. So jemand verkaufte zum Beispiel die gesamten Produktionsanlagen des ehemaligen Betriebes meines Vaters, der früher Kleinlaster herstellte. Nachdem nichts mehr da war, stellte sich heraus, dass der « Manager » ein Vorstandsmitglied von Mercedes war und die unliebsame Konkurrenz aus dem Weg räumen wollte. Überhaupt versuchten viele Betrüger, Kapital aus der Unwissenheit und Naivität der « Ossis » zu schlagen. Natürlich gab es auch positive Entwicklungen : mein Vater und mein Bruder fanden schließlich wieder Arbeit und konnten sich einen kleinen Luxus erarbeiten : ein eigenes Auto, ein Computer, eine Stereoanlage. Dennoch sind die Löhne im Vergleich zu Westdeutschland deutlich geringer. Positiv war auch die Modernisierung der Infrastruktur. Man baute neue Straßen und Telefonleitungen, viele alte Häuser wurden endlich saniert und unzählige Einkaufszentren wurden gebaut. Materiell betrachtet geht es den Menschen, die Arbeit haben, besser.

Allerdings ist vielen mit der DDR ein Teil ihrer Identität verloren gegangen : Vieles war nun plötzlich nichts mehr wert - das Geld, der Arbeitsplatz, die Ausbildung, das Alltagswissen und ja auch die Ideologie, die Utopie von einem sozialistischen Staat, an die viele doch geglaubt hatten. Mit der DDR ist nicht nur ein Regime untergegangen, sondern auch der Glaube an eine gerechtere Gesellschaft. Meiner Meinung nach ist es kein Zufall, dass der Untergang der kommunistischen Staaten von einer weltweit zunehmenden Kapitalisierung und Materialisierung gefolgt wurde. Viele fühlten sich von der Vereinigung überrumpelt - selbst die Dinge, die in der DDR besser waren als in Westdeutschland, wurden wieder rückgängig gemacht. Manchen kam es eher so vor, als würde das westdeutsche System einfach dem Osten übergestülpt. Und die basisdemokratischen Energien, die die Bürgerrechts- und Reformbewegungen in Ostdeutschland freigesetzt hatten, wurden bald in den bundesdeutschen politischen Strukturen zermahlen.

Ein Freund von mir war beispielsweise in den späten 90er Jahren Gründungsmitglied des « Neuen Forums » in Leipzig, einer bürgerrechtlichen Untergrundpartei. Nachdem er im Herbst 1989 kurzweilig in politische Gefangenschaft geriet, war er für zwei Jahre als Referent im Bundestag tätig. Völlig desillusioniert von der politischen Entwicklung, zog er sich bald ins Private zurück. Manchmal denke ich, wir alle sollten wieder öfter auf die Straßen gehen und den Regierungen dieser Welt laut zurufen « WIR sind das Volk ! », so wie 1989 in Leipzig.

Anja Schubert

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